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Repräsentative Umfrage: Fast 30 % aller Kinder und Jugendlichen von sexueller Belästigung im Internet betroffen

Machtlosigkeit und eigene Schuldzuweisungen belasten Opfer – SOS-Kinderdorf und Rat auf Draht fordern mehr Prävention in Schulen und effektivere Strafverfolgung


Wien – Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die sich mit Fragen zu digitalen Medien an die Helpline „Rat auf Draht“ von SOS-Kinderdorf wenden, steigt dramatisch. Jede dritte dieser Anfragen handelt von sexueller Belästigung und Gewalt. Bei den Kindern und Jugendlichen, die SOS-Kinderdorf betreut, sind die Fragen zum Umgang mit sozialen Medien und damit verbundenen Gefahren zur Zeit eines der Top-Themen“, sagt Christian Moser, Geschäftsführer von SOS-Kinderdorf.

SOS-Kinderdorf und Rat auf Draht haben daher das Institut für Jugendkulturforschung beauftragt, erstmals österreichweit Daten dazu zu erheben und eine repräsentative Befragung unter 400 Kindern und Jugendlichen durchzuführen. Die Ergebnisse sind alarmierend und zeigen dringenden Handlungsbedarf auf politischer Ebene.

Online-Bekanntschaften werden zu falschen Freunden

Neue Kontakte knüpfen, Freunde finden und sich verlieben – das passiert laufend in Online-Spielen, Chatportalen und auf Instagram. Stellen sich diese Online-Bekanntschaften jedoch als falsche Freunde oder Kriminelle heraus, wird es unangenehm oder auch gefährlich. 27 Prozent aller Kinder und Jugendlichen zwischen 11 und 18 Jahren haben mindestens schon einmal sexuelle Belästigung im Internet erlebt. „Besorgniserregend ist, dass Mädchen mit 40 Prozent dreimal häufiger betroffen sind als Burschen“, sagt die Studienleiterin Raphaela Kohout vom Institut für Jugendkulturforschung

Die Erlebnisse reichen von unangenehmen sexuellen Fragen bis hin zu eindeutigem sexuellen Missbrauch. Sehr häufig werden Nacktfotos oder -videos ungewünscht an Kinder und Jugendliche geschickt oder diese aufgefordert, solche von sich selbst zu senden. Knapp über 10 Prozent der Befragten wurden auch schon einmal erpresst, z.B. mit Nacktfotos. Erfahrungen mit Cyber-Grooming (die Online-Anbahnung von Sexualkontakten mit Kindern und Jugendlichen) haben bereits 14 Prozent aller 11 bis 18-Jährigen gemacht. Bei den Mädchen liegt der Anteil bei 22 Prozent. Der Großteil der sexuellen Belästigung passiert durch unbekannte Personen bzw. Personen, die die Kinder und Jugendlichen nur online kennen und deutlich älter sind als sie.

Eindeutig sexueller Missbrauch

In einem Tiefeninterview erzählte eine heute 17-Jährige über ihre Erfahrungen als 12-Jährige: Ältere Männer hätten regelmäßig vor ihr im Chat masturbiert und der 12-Jährigen dabei zugesehen, wie sie sich selbst vor der Kamera befriedig hätte. Nun fürchtet sie sich, dass diese Videos auftauchen könnten.
„Diese Situation ist ganz klar als sexueller Missbrauch einzustufen, und ist rechtlich gesehen gleich zu werten, wie wenn sich Täter und Opfer im selben Raum aufhalten würden“, sagt Elke Prochazka, Psychologin bei Rat auf Draht. „Auch die Folgen von sexualisierter Gewalt im Internet sind für die Betroffenen schwerwiegend.“ Sie reichen von sozialer Ausgrenzung bis zu Depressionen, selbstverletzendem Verhalten und Suizid.

Sexuelle Belästigung ist „Normalität“

Ebenfalls alarmierend: Sexuelle Belästigung und Übergriffe, die online passieren, werden von Jugendlichen als „normal“ bewertet. „Viele Betroffene haben sich damit abgefunden“, sagt Kohout. „Sie fühlen sich ohnmächtig und glauben, dass nichts dagegen gemacht werden kann.“ Oft wenden sie sich nicht an Vertrauenspersonen, weil sie es als sinnlos erachten. Die Kinder und Jugendlichen geben häufig nicht den TäterInnen die Schuld, sondern sehen sich selbst mitverantwortlich, wenn sie online sexuell belästigt werden, weil sie beispielsweise Fotos posten, die freizügig wirken.

„Wir müssen den Kinder und Jugendlichen glaubhaft vermitteln, dass Übergriffe dieser Art niemals in Ordnung sind, egal wie man sich zeigt und es immer Sinn macht, sich Hilfe zu holen“, betont Prochazka. „Wenn Kinder in die Falle tappen, brauchen sie Unterstützung statt Strafen.“ Erwachsene Bezugspersonen können nur dann glaubwürdig diese Gefahren mit ihren Kindern besprechen, wenn sie generell mit ihren Kindern über Sexualität sprechen. Aufklärung vom Kindesalter an sei ein wesentlicher Schutzfaktor.

Strategien zum Schutz vor Übergriffen

Jugendliche entwickeln selbst unterschiedliche Strategien, um mit sexuellen Übergriffen im Internet umzugehen oder sie zu vermeiden. Vor allem den Hilfefunktionen der Seitenbetreiber wird eine wichtige Rolle zugeschrieben. Über die Hälfte der Befragten (52 Prozent) wenden die Blockier- sowie Sperrfunktion der Seitenbetreiber an und ein Viertel der Befragten meldet die Person dem Seitenbetreiber.

„Die großen sozialen Medien müssen dieser Verantwortung gerecht werden, sexuelle Belästigung und Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Netz zu bekämpfen“, fordert Moser. „Die Politik ist aufgerufen die Seitenbetreiber stärker in die Pflicht zu nehmen, damit Meldungen rascher bearbeitet und illegale sowie Persönlichkeitsrechte verletzende Inhalte rascher gelöscht werden.“

Das Entlarven von „Fake-Profilen“ wird ebenfalls als wichtig empfunden. Die jungen Menschen überlegen auch genau, welche Informationen und Fotos sie an Unbekannte weitergeben. „Bei Rat auf Draht empfehlen wir misstrauisch zu sein, wenn jemand auffällig viele Komplimente macht, oder Fragen über sexuelle Erfahrungen stellt, sehr schnell videochatten möchte oder fragt, ob man gerade alleine ist“, erklärt Prochazka. „Auch wenn jemand mit Geschenken oder Angeboten wie einer Modelkarriere lockt oder jemand angibt jugendlich zu sein, aber ganz anders spricht als Jugendliche, ist Vorsicht geboten.“

Treffen mit Online-Freunden

Sich mit Online-Bekanntschaften zu treffen, ist für viele normal. Es gibt allerdings Bewusstsein dafür, dass man Vorsichtsmaßnahmen ergreifen soll, um sich zu schützen. Eine Befragte erzählt: „Ich treffe die Leute beim ersten Mal immer an öffentlichen Orten, ich will zu niemandem nach Hause gehen.“ Trotzdem machen die Jugendlichen auch schlechte Erfahrungen. In den Tiefeninterviews erzählen zwei der Befragten über sexuelle Kontakte mit älteren Personen. Sie sind sich nicht sicher, ob sie den sexuellen Kontakt tatsächlich wollten, oder nur zugestimmt haben, weil sie Angst hatten „Nein“ zu sagen.

„Wir raten Eltern dazu Online-Freundschaften und auch Treffen zu erlauben“ so Prochazka. „So werden Eltern zu einer Ansprechperson für ihr Kind und haben auch die Möglichkeit zu begleiten und zu schützen.“ Eltern sollten ihren Kindern Informationen über mögliche Gefahren geben und darauf bestehen, die Identität des Gegenübers zu prüfen. Bei persönlichen Treffen ist es wichtig, dass sie an einem öffentlichen Ort stattfinden, wo sich Jugendliche an Personen wenden können, die dort fix arbeiten.

Kaum Wissen über Gesetzeslage

Rechtlich ist die Lage in Österreich eindeutig. Zum Beispiel bei Cyber-Grooming: Wer Kinder unter 14 Jahren dazu auffordert, pornografische Fotos von sich zu schicken, sich vor der Webcam auszuziehen, oder wer sie mit der Absicht des sexuellen Missbrauchs zu einem Treffen zu überreden versucht, dem drohen bis zu zwei Jahre Haft. Am Beispiel Cyber-Grooming sieht man jedoch, dass 56 Prozent der Befragten nicht wissen, dass es strafbar ist. Nur die wenigsten der Befragten (8 Prozent) gehen zur Polizei und zeigen die Person an, wenn sie im Internet sexuell belästigt wurden.

„Leider gibt es auch bei der Polizei kein vollständiges Wissen über die Gesetzeslage, wie wir aus der Beratungstätigkeit bei Rat auf Draht wissen“, so Moser. Immer wieder komme es vor, dass Betroffene bei der Polizei auf Unwissen oder Unverständnis stoßen. „Es braucht Maßnahmen von politischer Seite, um eine effektivere Strafverfolgung von Cyber-Grooming und anderen Formen sexueller Belästigung und Gewalt gegen Kinder und Jugendliche im Netz zu erreichen“, so Moser. „Damit jeder und jedem Betroffenen geholfen werden kann, braucht es dringend eine bessere Sensibilisierung und Ausbildung von Polizistinnen und Polizisten.“

Dringender Aufklärungsbedarf

„Die Studienergebnisse zeigen einen dringenden Aufklärungsbedarf“, so Kohout. „Lediglich 32 Prozent der Befragten wurden über die Gefahren sexueller Übergriffe informiert.“ Der Großteil der Befragten wünscht sich, dass Kinder und Jugendliche mehr über sexuelle Belästigung im Internet informiert und gewarnt zu werden. Diese Aufklärung soll am besten in der Schule stattfinden und das schon möglichst am Ende der Volksschule bzw. spätestens mit 10 bis 12 Jahren.

„Wir brauchen eine moderne Medienerziehung und umfassende Gewaltpräventionsprogramme an Schulen, damit junge Menschen zu kritischen Usern heranwachsen und Gefahren erkennen können“, fordert Moser. In der Umsetzung würde das bedeuten, dass als ersten Schritt alle PädagogInnen in digitalen Kompetenzen weitergebildet werden, alle Schulen verpflichtend Gewaltpräventionskonzepte implementieren und zusätzlich
die Schulsozialarbeit und Schulpsychologie ausgebaut wird.

Gemeinsam erleben statt verbieten

Neben der Schule wünscht man sich Aufklärung vor allem durch die Eltern. Die Studienergebnisse zeigen, dass Kinder sehr frei und ohne Einschränkungen das Internet nutzen können. Über 60 Prozent der 11 bis 18-Jährigen haben keinerlei Einschränkungen bei der Internetnutzung. Wenn es Probleme mit sexueller Belästigung gibt, holen sich nur 16 Prozent Hilfe bei ihren Eltern.

„Es wär allerdings ein falscher Schluss, Eltern mehr Einschränkungen und Filterprogramme für den Schutz ihrer Kinder zu empfehlen“, erklärt Prochazka. „Das Wichtigste ist, junge Menschen bei ihren Online-Aktivitäten zu begleiten, sie aufzuklären und sie zu bestärken kritisch und selbstbewusst zu sein.“ In der Praxis könne das bedeuten, sich Apps und Spiele vom Nachwuchs erklären zu lassen und gelegentlich auch gemeinsam zu zocken. „Wichtig ist auch zu verstehen, dass Filterprogramme vor allem deswegen nicht sinnvoll sind, weil sich Cyber-Grooming und andere sexuelle Übergriffe nicht auf bestimmte Seiten oder Apps beschränken“, so Prochazka abschließend.

Politik zum Handeln gefordert

„Um Kinder und Jugendliche vor sexuelle Belästigung und Gewalt im Netz zu schützen, ist die Politik gefordert Maßnahmen zu setzen“, betont Christian Moser abschließend. SOS-Kinderdorf und Rat auf Draht fordern
- eine effektivere Strafverfolgung von sexueller Belästigung und Missbrauch Minderjähriger über digitale Medien,
- umfassende Gewaltpräventionsprogramme an Schulen im Rahmen einer modernen Medienerziehung,
- mehr Verantwortung der Seitenbetreiber und großer sozialer Medien, um Kinder und Jugendliche besser vor Übergriffen im Netz zu schützen,
- eine umfassende Bewusstseinsbildung unter Eltern und Erziehungsberechtigten zu allen Formen sexueller Gewalt, denen Kinder und Jugendliche im Netz ausgesetzt sein können.

(SERVICE – Rat auf Draht hat einen Infofolder für Kinder und Jugendliche zum Thema Schutz vor sexueller Belästigung erstellt. Bestellung: 147@rataufdraht.at. Download: www.rataufdraht.at)

Rückfragen: SOS-Kinderdorf/Presse, susanne.schoenmayr@sos-kinderdorf.at, T.: 0676/88144239