Wenn der Kampf um die Bikinifigur zur Krankheit wird
Raus aus den dicken Jacken, rein in die knappe Badebekleidung: Während sich viele Jugendliche über den Beginn der Badesaison freuen, steigt bei anderen der Druck. Rat auf Draht gibt Tipps, wie Eltern Essstörungen frühzeitig erkennen.
Bei Rat auf Draht, der Helpline für Kinder und Jugendliche, melden sich zu Beginn der warmen Jahreszeit verstärkt Jugendliche, die Fragen zu ihrem Gewicht haben und sich Tipps wünschen, wie sie rasch abnehmen können. „Erschreckend ist, dass bei machen Jugendlichen der Blick auf die eigene Figur total verzerrt ist“, sagt Birgit Satke, Leiterin von Rat auf Draht. „Besonders junge Frauen definieren ihren Selbstwert oft über ihre Figur. Aber auch bei männlichen Jugendlichen ist ein perfekter Körper zunehmend ein Thema. Muskeln und Waschbrettbauch sind gefragt und dafür wird oft hart trainiert“, so Satke.
Crash-Diäten als erster Schritt zur Essstörung
Viele Jugendliche fühlen sich in ihrem Körper nicht wohl und sind mit ihrem Äußeren unzufrieden. Ihr Ziel ist ein schlanker Körper und damit ein perfektes und makelloses Aussehen. Und dafür wird einiges in Kauf genommen. Statt bewusster Ernährung setzen manche Jugendliche auf ungesunde Crash-Diäten, die nicht den gewünschten Erfolg bringen und manchmal der erste Schritt zu einer Essstörung sein können. Der Wunsch, nur einmal schnell ein paar Kilo zu verlieren, geht so nach hinten los. Besonders alarmierend ist, dass die von Essstörungen Betroffenen immer jünger werden.
„Gerade Jugendliche, die sich während der Pubertät körperlich verändern und erst ein Gefühl für ihren neuen Körper entwickeln müssen, können durch ein übersteigertes Schlankheitsideal stark verunsichert sein“, sagt Satke. Die Folgen zeigen sich dann in ständigen Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen, die um eine Veränderung des Körpers kreisen. Daher ist es wichtig, diesen Gedankenkreislauf zu durchbrechen und Jugendliche darüber aufzuklären, dass sie nicht alles glauben dürfen, was sie in Zeitschriften, Werbespots und Internetportalen sehen oder lesen.
Gefährliche Internet-Foren
Als äußerst alarmierend stuft Satke ein neues Phänomen ein: Internet-Foren, in denen Essstörungen als Lifestyle verherrlicht werden. Hinter harmlos klingenden Namen wie „Pro-Ana“ (Anorexia nervosa/Magersucht) und „Pro-Mia“ (Bulimia nervosa/Ess-Brech-Sucht) verbergen sich Plattformen, auf denen sich junge Menschen mit Essstörungen gegenseitig anstacheln. Tipps und Tricks zum Abnehmen werden ausgetauscht, Gewichtstagebücher geführt und Abnehmwettbewerbe veranstaltet. Voraussetzung zum Zugang in diese Foren ist die glaubhafte Bekundung, selbst essgestört zu sein. „Der Austausch zwischen den Mitgliedern findet somit hinter verschlossenen Türen statt – eine sehr besorgniserregende Entwicklung“, sagt Satke.
Essstörungen sind kein Ernährungsproblem, sondern Lösungsversuche für tiefer liegende psychische Probleme. Das Essen bzw. Hungern steht für den Versuch, Probleme zu lösen, für Protest, Ablehnung oder Ersatz für verdrängte Gefühle und Bedürfnisse. „Wenn wir von Essproblemen sprechen, geht es im Allgemeinen um die drei großen Bereiche der Magersucht, der Bulimie und der Adipositas“, sagt Satke.
Alarmsignale
Der Übergang von einem problematischen Essverhalten zu einer Essstörung ist oft fließend. Gerade deshalb ist es wichtig, achtsam zu sein, um erste Anzeichen zu erkennen.
Einschreiten ist notwendig,
- wenn aus merkwürdigen Verhaltensweisen oder einer Diät ein Dauerzustand wird
- wenn sich die Einstellung zum Essen verändert oder nicht mehr mit Genuss gegessen wird
- bei ständiger Beschäftigung mit Figur und Gewicht
- bei Über- oder Untergewicht
- bei raschem Gewichtsverlust oder rascher Gewichtszunahme
- wenn gemeinsames Essen gemieden wird
- wenn zum Ausgleich sehr viel Sport getrieben wird
- wenn nach dem Essen der Nachwuchs länger auf der Toilette oder im Bad verweilt
- wenn man beißenden Geruch im WC wahrnimmt
- wenn Essen aus dem Vorratsschrank verschwindet
Was können Eltern tun?
Eltern reagieren unterschiedlich, wenn sie befürchten, dass ihr Nachwuchs eine Essstörung hat. Hilflosigkeit, Enttäuschung, Resignation, Trauer, Wut und Angst sind die häufigsten Reaktionen. Sie können sich verstärken, wenn sich Partner gegenseitig die Schuld für die Essstörung des Kindes zuweisen. Wenn Eltern eine Essstörung vermuten, sollten sie nicht versuchen eine/n Schuldige/n auszumachen. Vielmehr sollten Wege gesucht werden, zu unterstützen und gemeinsam eine Strategie im Umgang mit dem essgestörten Kind zu entwickeln. „Wichtig ist, nicht die Augen zu verschließen und tatenlos zuzusehen. Essstörungen sind Krankheiten, die nicht nur das eigene Kind, sondern die ganze Familie extrem belasten. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei, nichts über den Kopf des essgestörten Jugendlichen zu entscheiden“, rät Satke
Über das gestörte Essverhalten senden junge Menschen, die sich nicht anders ausdrücken können, Botschaften. Sie zeigen damit ihre Nöte, Befürchtungen oder Wünsche und diese sind ganz persönlich und verschieden. Deshalb gibt es auch kein Patentrezept, weder im Umgang mit dem essgestörten Kind noch zur Heilung der Erkrankung. Eltern fällt es oft schwer zu erkennen, dass das Problem in der Familie nicht zu lösen ist. „Eltern können aber Bedingungen verändern, die die Essstörung aufrechterhalten und können dazu motivieren fachliche Hilfe von Experten für die Diagnose und die Therapie in Anspruch zu nehmen“, sagt Satke.
Professionelle Hilfe
Rat auf Draht ist unter der Notrufnummer 147 rund um die Uhr aus ganz Österreich erreichbar, hier erhalten Sie Erstberatung und Informationen zu Experten in Ihrer Nähe! Der Anruf kostet nichts und ist anonym.
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Rückfragen: Rat auf Draht/SOS-Kinderdorf, martina.stemmer@sos-kinderdorf.at, T.: 0676 / 881 44 243