Wien, am 7. September 2023. Suizid zählt zu den häufigsten Todesursachen bei Kindern und Jugendlichen - auch in Österreich. Wie viele junge Menschen tatsächlich mit dem Gedanken kämpfen, sich das Leben zu nehmen, zeigen die Beratungszahlen von Rat auf Draht, die weiterhin alarmierend hoch sind: Von Jänner bis Ende August 2023 wurde 861-mal zu dieser Thematik beraten, was einer Steigerung von 3,61 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum entspricht. „Somit führen wir im Schnitt täglich vier Beratungsgespräche zum Thema Suizid“, sagt Birgit Satke, Leiterin der Notrufnummer 147 von Rat auf Draht anlässlich des Welttages der Suizidprävention am 10. September. Gerade die Altersgruppe zwischen 15 und 18, die mitten in der Teenagerphase steckt, kämpft besonders mit dieser Thematik, auf sie kommen 317 Beratungen in Beobachtungszeitraum. „Hier spielt sicherlich neben anderen Risikofaktoren die hormonelle Umstellung in der Pubertät eine Rolle, die man auf keinen Fall unterschätzen sollte“, sagt Satke.
Große inhaltliche Bandbreite
Die inhaltliche Bandbreite der Gespräche zu Suizidalität reicht von „Ich habe schon einmal daran gedacht, nicht mehr leben zu wollen“, bis hin zu konkreten Suizidplänen und -absichten. „Aus den Beratungen wissen wir, dass sich Jugendliche in Verbindung mit Suizidgedanken oft zu kraftlos fühlen, um einen Ausweg aus einer schwierigen Situation zu erreichen oder sie überhaupt keine Freude an Dingen empfinden, die ihnen früher Spaß gemacht haben“, so Satke. In solch massiv belastenden und scheinbar ausweglosen Situationen sind junge Menschen oft emotional äußerst eingeengt. Das führt dazu, dass sie die Tragweite bestimmter Überlegungen und Handlungen nicht real abschätzen können. „Meistens ist Suizidalität daher ein Ausdruck von Hoffnungslosigkeit und der Wunsch nach Ruhe angesichts eines unlösbar erscheinenden Problems oder einer akuten Krisensituation. Nur selten steht der Wunsch nach dem Tod im Vordergrund“, erklärt Satke.
Zusammenspiel vieler Faktoren
Die Ursachen, warum Kinder und Jugendliche über Suizid nachdenken oder suizidale Handlungen setzen, ist meist ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Risikofaktoren. Dazu zählen etwa schwierige familiäre Situationen (Streit, Scheidung oder Trennung der Eltern, unzureichende Betreuung, etc.), sexueller Missbrauch, Gewalterfahrungen, Überforderung in der Schule, schlechte Noten, (Cyber-)Mobbing, Leistungsdruck, Versagensängste, psychosoziale Probleme und Ausgrenzung, Alkohol- oder Drogenmissbrauch, geringer Selbstwert, depressive Verstimmungen, etc. Hinzu kommt das durch die Pandemie, den Krieg gegen die Ukraine und die damit verbundenen Teuerungen gedrückte Stimmungsbild und daraus resultierende Zukunftsängste.
Expertise trifft Feingefühl
Daher erfordert die Präventionsarbeit besonders viel Feingefühl, zeigen sich suizidale Gedanken doch oft nicht unmittelbar in den Gesprächen, wie Satke weiß: „Im Gespräch werden zunächst andere Probleme genannt. Erst nach und nach stellt sich im Zuge einer ausführlichen Beratung heraus, dass der junge Mensch mit Suizidgedanken kämpft. Am wichtigsten ist es, eine Vertrauensbasis aufzubauen, denn über Suizid wird in unserer Gesellschaft nicht gern gesprochen“. Gemeinsam mit den Betroffenen wird überlegt, wie schnell für Entlastung gesorgt werden kann, etwa durch die Identifikation einer Vertrauensperson im direkten Umfeld. Satke: „In der Regel spüren suizidgefährdete Jugendliche erhebliche Erleichterung, wenn sie ihre belastenden Gedanken aussprechen können. Zuhören, nachfragen, ruhig bleiben, keinen Druck ausüben, auch negative Gefühle zuzulassen und verständnisvoll auf die Situation reagieren, ist bei solchen Beratungsgesprächen besonders wichtig“. Auch an Krisenzentren und andere Einrichtungen, die therapeutische Unterstützung anbieten, vermittelt Rat auf Draht bei Bedarf weiter. Bei Gefahr im Verzug werden Einsatzkräfte verständigt.
Auch Eltern brauchen Unterstützung
Ähnliche Empfehlungen werden auch von den Expertinnen der Rat auf Draht Elternseite gegeben, wenn sich Eltern und Bezugspersonen melden, um suizidale Äußerungen ihres Nachwuchses zu besprechen. „Meist wollen Eltern Suizidgedanken ihrer Kinder abklären und suchen Rat, wie sie weiter vorgehen sollen. In den Gesprächen geht es daher oft um Entlastung, Hilfe für die Gesprächsführung und welche weiteren Hilfsangebote in Anspruch genommen werden könnten. Wichtig ist, dass die Aussagen des Kindes ernst genommen, Interesse und Mitgefühl gezeigt werden. Nach Suizidalität kann, darf und soll direkt gefragt werden“, sagt Elternseite-Beraterin Lena Kaiser.
Enttabuisierung dringend nötig
All diese Erfahrungen zeigen, dass es immer noch ein gesellschaftliches Tabu ist, offen über Suizid zu sprechen. „Eine Enttabuisierung dieses Themas wäre dringend nötig. Menschen müssen ermutigt werden, die meist vorhandenen Signale bei Jugendlichen mit psychischen Belastungen zu erkennen, diese ernst zu nehmen, das Gespräch zu suchen und bei Bedarf professionelle Unterstützungsangebote wie Rat auf Draht zu nutzen“, appelliert Satke. Auch der Ausbau von Therapieangeboten für Jugendliche sei wünschenswert. „Die Pandemie hat zwar das Bewusstsein für mentale Gesundheit steigen lassen, nach wie vor muss man aber lange auf psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten warten. Auch präventive Maßnahmen im schulischen Bereich wären wichtig, denn für Jugendliche ist sie ein Ort ihres täglichen Lebens“, so Satke abschließend.
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