Vielleicht kennst du auch von dir bestimmte Routinen in deinem Leben, wie den Blick in den Spiegel, bevor du außer Haus gehst. Bestimmte wiederkehrende Abläufe und Rituale geben unserem Alltag Struktur und vermitteln Sicherheit und dass wir uns wohlfühlen. Dinge, an die man sich gewöhnt hat und an denen man sich gern festhält. Beispielsweise hilft das regelmäßige Vorlesen im Kindesalter dabei, besser einschlafen zu können. Auch z. B. nachzusehen, ob man wirklich zugesperrt hat oder das Licht ausgemacht hat, ist ein Ablauf, der durchaus Sinn haben kann. Gewisse bekannte, regelmäßige Routinen oder auch Rituale hat vermutlich fast jede:r von uns.
Wie erkenne ich eine Zwangsstörung?
Aber wann werden solche Routinen zum Problem? Ein wichtiges Kennzeichen ist, wie sich diese Abläufe für einen selbst anfühlen. Es macht einen Unterschied, ob man einen Gedanken oder Ablauf leicht verändern oder weglassen kann, oder nicht. Bei einer Zwangserkrankung ist es nur sehr schwer oder gar nicht möglich die Gedanken zu verändern oder eine Handlung wegzulassen.
Bei einer Zwangserkrankung ist es so, dass man sich innerlich gezwungen fühlt, Handlungen zu machen oder Gedanken zu denken. Also eine Art innerer Drang zu etwas, das Gefühl, es tun zu müssen, auch wenn man das eigentlich gar nicht möchte oder es nicht angenehm findet. Der innere Druck ist sehr stark. Ist dieser Druck oder Zwang da, spricht man von Zwangshandlungen bzw. Zwangsgedanken. Kann eine Zwangshandlung nicht ausgeführt werden, dann führt das dazu, das die innere Anspannung, die Angst oder auch Aggression zunehmen. Durch das Ausführen von Zwangshandlungen bzw. Zwangsgedanken wird kurzfristig die innere Spannung, Angst, Unsicherheit oder Unruhe erleichtert. Eine Zwangsstörung ist eine psychische Erkrankung.
Wie äußern sich Zwänge?
Es kann beispielsweise sein, dass der abgeschaltete Herd nicht einmal, sondern in "Dauerschleife" kontrolliert wird oder zig-mal kontrolliert wird, ob abgesperrt ist, obwohl einem selbst klar ist, dass man die Tür bestimmt zugesperrt hat. Doch der innere Druck und die innere Anspannung bleibt trotzdem bestehen.
Es braucht immer wieder dieselbe Handlung, bis die innere Spannung merklich abnimmt. Erst dann ist es möglich, loszugehen. Solche intensiven "Kontrollmomente" können echt anstrengend sein und die Lebensqualität von Betroffenen stark einschränken.
Es kann auch sein, dass es beispielsweise einen Gedanken(-gang) gibt, der sich aufdrängt, also "unbedingt gedacht werden will". Und der sich dann, wie in einer Dauerschleife so lang in den Gedanken wiederholt, bis die Anspannung nachlässt. Es können auch Zwangsgedanken und Zwangshandlungen zusammen auftreten.
Die Handlungen und Gedanken dienen also dazu, sich für den Moment innerlich Erleichterung und Sicherheit zu verschaffen. Oft ist einem selbst total klar, dass die Gedanken oder auch Handlungen zu viel sind, und es sie gar nicht brauchen würde. Wenn versucht wird, die Handlungen bzw. Gedanken zu unterdrücken, verstärkt sich die Spannung und die Angst. Du bist nicht schwach, wenn es nicht gelingt. Es braucht hier einfach Unterstützung von Expert:innen.
Was gibt es für Zwänge?
Man kann Zwangsgedanken und Zwangshandlungen unterscheiden. Sie können einzeln oder auch zusammen auftreten.
Bei Zwangsgedanken haben Betroffene immer wieder Gedanken, Bilder, Ideen, Vorstellungen oder Impulse, die sich gegen den eigenen Willen aufdrängen und eine:n immer wieder beschäftigen und Ängste auslösen.
Häufige Zwangsgedanken sind:
- Befürchtungen, dass man sich mit Krankheitserregern verschmutzen könnte,
- dass man etwas Unangemessenes oder Verbotenes gedacht hat (z. B. mit sexuellem oder religiösem Inhalt),
- dass man jemanden einen Schaden zugefügt hat,
- dass man etwas vergessen hat (z. B. die Türe zuzusperren).
Natürlich kann fast jede:r einmal solche Gedanken haben, das ist nicht ungewöhnlich. Bei einer Zwangserkrankung hat man aber über einen längeren Zeitraum fast täglich diese aufdrängenden Gedanken und empfindet sie als unangenehm und oft auch als unsinnig.
Bei Zwangshandlungen verspüren Betroffene immer wieder den Impuls und Druck bestimmte Tätigkeiten auszuführen. Durch das Ausführen der Handlungen versuchen Betroffene ängstigende Gedanken loszuwerden und sich wieder sicherer zu fühlen. Das Ausführen von Zwangshandlungen kann manchmal sehr viel Zeit in Anspruch nehmen.
Häufige Zwangshandlungen sind:
- Waschzwänge: Betroffene fühlen sich schmutzig oder haben Angst vor Schmutz, Bakterien oder einer Ansteckung mit Krankheitserregern und waschen sich deshalb sehr häufig oder sehr lange.
- Kontrollzwänge: Betroffene müssen z. B. einige Male kontrollieren, ob sie die Türe zugesperrt haben oder den Herd abgedreht haben.
- Ordnungszwänge: können sich z. B. äußern, dass die Sachen im Kleiderschrank eine genaue Ordnung haben müssen und in einer bestimmten Weise zusammengelegt sein müssen.
- Zählzwänge: Betroffene verspüren z. B. immer wieder den Drang ihre Schritte zu zählen oder bis zu einer gewissen Zahl zu zählen, damit eine Befürchtung nicht eintritt.
Zwänge können unterschiedlich stark einschränken
Auch das Ausmaß, in dem eine Zwangserkrankung auftritt, ist sehr unterschiedlich. Oft werden die Zwänge als ziemlich anstrengend, kräfteraubend und belastend erlebt. Betroffene empfinden einen starken Leidensdruck. Die Zwänge können auch viel Zeit in Anspruch nehmen. Was zusätzlich zu der Anstrengung und inneren Intensität auch weitere Einschränkungen mit sich bringen kann. Es ist dann vielleicht schwierig, Termine einzuhalten oder man muss etwa die Zeit dafür zusätzlich einplanen, um im Alltag nicht zu spät zu Terminen zu kommen.
Bei stark ausgeprägten Zwängen kann die Lebensführung sehr stark eingeschränkt sein. Beispielsweise wenn die Gedanken nahezu nur mehr beim Zwangsthema sind. Oder auch wenn ein Waschzwang so intensiv ist, dass außer Haus gehen, schwer möglich ist. Ein weiteres Beispiel ist, wenn bestimmte Tätigkeiten bzw. Situationen vermieden werden, mit denen Zwangsgedanken bzw. Zwangshandlungen verknüpft sind.
Es kann auch sein, dass man aus Scham versucht, die Handlungen zu verstecken und auch dass man über die Gedanken nicht spricht. Dabei kann allein das Aussprechen durchaus auch Erleichterung verschaffen. Dadurch kann auch eine Art Distanzierung entstehen - man trägt die Gedanken nicht mehr nur allein in sich.
Wie entsteht eine Zwangsstörung?
Warum man eine Zwangserkrankung bekommt, ist nicht immer eindeutig feststellbar. Oft spielen verschiedene Ursachen zusammen. Bei der Entstehung einer Zwangsstörung kann Folgendes eine Rolle spielen:
- schwierige Ereignisse in der Lebensgeschichte,
- genetische Vererbung, wenn es in der Familie schon Zwangserkrankungen gab,
- aktuelle Belastungen,
- Persönlichkeitseigenschaften, z. B. wenn man immer schon sehr gewissenhaft war oder vielleicht zu ängstigenden Gedanken neigt,
- bestimmte Veränderungen im Gehirn oder
- eine Störung des Serotoninhaushalts - Serotonin ist ein Botenstoff, der Einfluss auf viele Körperfunktionen hat.
Wie kann man herausfinden, ob man eine Zwangsstörung hat?
Um abzuklären, ob eine Zwangserkrankung vorliegt, kann man sich an klinische Psycholog:innen oder an Kinder- und Jugendpsychiater:innen wenden.
Was hilft bei einer Zwangserkrankung?
Um Zwänge zu überwinden, gibt es verschiedene Behandlungsmöglichkeiten. Bei Zwängen kann eine klinisch-psychologische oder psychotherapeutische Behandlung gut helfen.
In der Behandlung wird u.a. erlernt,
- mit den Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen umzugehen,
- hilfreiche Strategien zu entwickeln und somit
- eine Besserung zu erreichen.
Es lassen sich mit professioneller Behandlung auch individuelle Zusammenhänge erarbeiten, wenn du das möchtest. Zusätzlich dazu gibt es auch die Möglichkeit einer medikamentösen Unterstützung durch Psychiater:innen.
Wie kannst du dir bei einem Zwang selbst helfen?
Wenn du dich selbst in der Beschreibung wiedererkennst, kann es erst mal hilfreich sein, sich jemandem anzuvertrauen. Mit den ganzen Gefühlen, dem Druck und dem inneren Gedankenkarussell nicht allein zu sein, kann echt entlasten. Spür in dich hinein, wer passende Vertrauenspersonen für dich sind. Du kannst dich auch gerne bei uns in unseren Beratungsangeboten melden, um mal alles rauszulassen. Gemeinsam können wir dann erste mögliche Schritte überlegen und dich über Hilfsangebote vor Ort informieren.
Was kann man bei einem Zwang selbst mal probieren?
Allein zu verstehen, welche inneren Mechanismen hinter den Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen stecken, kann schon einen Unterschied im Erleben und im Umgang machen.
Tipp
Anspannung beruhigen
Wenn du bemerkst, dass die Anspannung in einer Situation ansteigt, kannst du probieren, dich auf deine Atmung zu konzentrieren. Versuche dazu nur kurz einzuatmen und dann zweimal oder dreimal so lange auszuatmen. Am besten einige Male oder ein paar Minuten, bis du merkst, dass die innere Spannung Stück für Stück nachlässt.
Du kannst auch versuchen, deinen Körper "auszuschütteln", also dich, deine Gliedmaßen, deinen ganzen Körper so schütteln, wie es gerade intuitiv in deinen Sinn kommt. Dazu kannst du auch mit einem Geräusch ausatmen.
Es kann auch helfen, zu beobachten, wie die Unsicherheit und Spannung z. B. durchs bewusste Atmen oder auch nach einiger Zeit wieder abnehmen. Diese Erfahrung und das bewusste Wahrnehmen, dass die Spannung, Angst, Unsicherheit etc. auch wieder "weg geht", kann auch für weitere herausfordernde Momente hilfreich sein. Das Gehirn und somit auch die Gedanken können so, wie ein Muskel trainiert werden. Atem- und Entspannungsübungen könntest du auch üben, wenn deine Anspannung gerade nicht sehr hoch ist, dann tust du dir vielleicht leichter sie einzusetzen, wenn du sie brauchst.
Realitätscheck
Wenn z. B. Angst oder Unsicherheit aufkommt, ob man die Tür zugesperrt hat, kann man sich selbst die Frage stellen, wie realistisch es ist, dass man z. B. die Tür nicht versperrt hat. Das kann Sicherheit spenden und beruhigen. Wenn man diese Angst kennt, kann auch helfen, sich in Gedanken zu holen, wie oft man die Befürchtung schon hatte und wie oft in der Vergangenheit die Tür dann dennoch bereits versperrt war.
Distanz herstellen
Du kannst versuchen, die verunsichernden, ängstigenden, etc. Gedanken wie "aus der Ferne" zu betrachten. Also wenn sie kommen, versuche wahrzunehmen, dass sie da sind und lass sie auch wieder weiterziehen.
Übung zur Distanzierung:
Du könntest dir dazu vielleicht vorstellen, dass die Zwangsgedanken wie ein Blatt sind, das auf einem Fluss treibt. Wenn du merkst, dass sie da sind, kannst du sie ganz bewusst aus der Ferne wahrnehmen, wie ein Blatt, dass du schon einmal gesehen hast. Wenn du willst, kannst du dir auch vorstellen, dass du sie ja schon kennst und sie begrüßen (z. B., „Hallo Zwangsgedanken. Da seid ihr ja wieder. Wir kennen uns ja schon!“). Lass den Gedanken zu und lass ihn einfach an dir vorbeifließen wie ein Blatt im Fluss. Stoppe ihn nicht, sondern behalte ihn einfach im Auge und versuche ihn zu beschreiben. Dadurch kannst du eine Art innere Distanz zu dem Zwangsgedanken schaffen und gibst ihm nicht eine so große Bedeutung. Sobald du das Gefühl hast, der Gedanke ist an dir vorbeigeflossen, kannst du dich wieder deiner Tätigkeit vor Auftauchen des Zwangsgedanken widmen.