Immer mehr Kinder und Jugendliche sind psychischer Gewalt ausgesetzt

Immer mehr junge Menschen berichten von psychischer Gewalt, wie die Beratungen von Rat auf Draht zeigen. Der psychosoziale Dienst setzt daher auf Bewusstseinsbildung bei Jung und Alt.

Wien, am 25. Jänner 2024. Sie hinterlässt auf den ersten Blick keine sichtbaren Spuren am Körper, sehr wohl aber auf der Seele: psychische Gewalt. Immer mehr Kinder und Jugendliche sind davon betroffen, wie die aktuellen Zahlen von 147 Rat auf Draht, Österreichs einziger Notrufnummer für Kinder und Jugendliche, zeigen. So haben die Beratungsgespräche zu psychischer Gewalt im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 13,61 Prozent zugenommen. Darunter fallen psychische Gewalt in der Familie und in der Partnerschaft, Mobbing in der Schule sowie Cybermobbing. Den größten Anstieg gab es bei Mobbing (22,26 Prozent) und psychischer Gewalt in der Familie (11,53 Prozent).

Vier Beratungen täglich, mehr Mädchen betroffen

„Mittlerweile führen wir im Schnitt vier Beratungen täglich zu diesem Thema“, sagt Birgit Satke, Leiterin der Notrufnummer 147 von Rat auf Draht. Die Gründe für den Anstieg seien vielfältig, so die Expertin: „Neben Risikofaktoren wie Überforderung im Alltag, schwierigen Lebensumständen oder eigenen Misshandlungs- bzw. Vernachlässigungserfahrungen von Erwachsenen, tragen Krisen wie Corona, die Kriege oder die Teuerung dazu bei, dass psychische Gewalt ansteigt, da die Menschen sich dadurch generell ein einer fragileren psychischen Verfassung befinden. Da braucht es oft nicht viel, damit es zu einer eskalierenden Situation kommt.“ Bei Kindern und Jugendlichen würden auch der Leistungsdruck in der Schule und Überforderung eine Rolle spielen. Wie die 147-Gespräche zeigen, sind Mädchen häufiger Opfer psychischer Gewalt. Rund 62 Prozent der im Jahr 2023 geführten 1.427 Beratungen entfallen auf weibliche Anrufer:innen, rund 37 Prozent auf männliche, rund ein halbes Prozent auf divers, der Rest auf unbekannt.

Viele Gesichter

„Anders als ihr Pendant, die körperliche Gewalt, hat psychische Gewalt viele Gesichter und ist auch schwieriger zu erkennen, da sie weniger sichtbar ist“, sagt Satke. Darunter fällt etwa: Einschüchterung, Angst machen, Ignorieren, Erniedrigen, Verspotten, Runtermachen, unter Druck setzen, Grenzen nicht achten/einhalten, emotionale Erpressung („Wenn du das nicht machst, dann passiert das“), Demütigung, Bloßstellen, vor Anderen schlecht machen, ständige Kontrolle, Drohungen, Beschimpfungen, Ausnutzen von Machtpositionen, permanente Kritik sarkastische/ironische Bemerkungen oder bewusstes Ignorieren/absichtliches Schweigen. „Auch ein extrem fürsorgliches Verhalten kann zur seelischen Gewalt werden, wenn es Abhängigkeit, Wertlosigkeit und Ohnmacht vermittelt“, so Satke.

Aufklärung und Bewusstseinsbildung

Die jungen Hilfesuchenden wissen oft gar nicht, dass sie psychischer Gewalt ausgesetzt sind. Satke: „Wir klären dann im Gespräch darüber auf, dass dieses Verhalten nicht in Ordnung und genauso verboten ist, wie körperliche Gewalt und die Anrufer:innen dies auch keineswegs hinnehmen müssen. Das ist vielen nicht bewusst“. Daher geht es in den Beratungen stark darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es sich dabei um eine Form der Gewalt handelt. „Wir versuchen den Betroffenen auch eine erste Entlastung zu bieten, indem sie offen darüber sprechen können. In weitere Folge raten wir dazu, sich Hilfe und Unterstützung zu holen. Entweder bei jemandem aus dem privaten Umfeld, dem sie vertrauen oder bei Unterstützungsangeboten“, erklärt Satke. Ganz wichtig sei jedenfalls - so wie bei allen Herausforderungen - darüber zu sprechen und nicht allein mit der Situation zu bleiben.

Unbewusst in die Erziehung eingeschlichen

Auch bei Erwachsenen ist es nötig, das Bewusstsein für psychische Gewalt zu schärfen. Denn auch vielen Eltern und Bezugspersonen sei nicht klar, dass sie diese, oft auch völlig unbeabsichtigt, an ihrem Nachwuchs ausüben, berichtet Lena Kaiser, Psychologin und Beraterin der Rat auf Draht-Elternseite: „Im Gespräch zeigt sich oft, dass sich psychische Gewalt unbewusst in den Erziehungsstil eingeschlichen hat und sich gegenüber dem Nachwuchs in Form von Drohungen oder im Umgang mit Konfliktsituationen durch Anschreien, Liebesentzug oder Ignorieren äußert.“ Daher werden auch die Eltern für das Thema sensibilisiert und ihnen Lösungen für gewaltfreie Kommunikation sowie Alternativen zur Konfliktlösung mitgegeben.

Schwerwiegende Folgen

Das ist auch wichtig, denn psychische Gewalt kann bei Kindern massive Spuren hinterlassen: „Abgesehen von kurzfristigen Beeinträchtigungen wie Niedergeschlagenheit oder Hoffnungslosigkeit, kann sie langfristige Folgen in Form von psychosomatischen Erkrankungen wie Schlaflosigkeit, Essstörungen, Angststörungen, Depressionen oder gar Suizidalität haben“, so Satke. Wenn Kinder psychische Gewalt zu Hause erleben, reagieren sie zudem auch aggressiv gegenüber Gleichaltrigen. „Im schlimmsten Fall kann psychische Gewalt die Betroffenen ein Leben lang belasten. Daher sollten auch Erwachsene ganz besonders darauf achten, wie sie Dinge gegenüber Kindern und Jugendlichen kommentieren und welche Worte sie wählen. Ein respektvoller Umgang ist stets der beste Weg, auch wenn er in emotionalen Ausnahmesituationen manchmal schwerfällt“, so Satke.

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